Die “Road Tubeless” – Problematik

Übersetzt aus dem englischen Original von Goetz Haubold, geschrieben von Jan Heine, veröffentlicht am 29.05.2017 auf dem Blog „off the beaten path“

„Es ist immer interessant, wenn Leute aus der Bike-Industrie ‚off-the-record‘ im Zuge von netten Veranstaltungen ins Gespräch kommen. Auf der Fahrt vom Flughafen zum Paul Camp vor ein paar Wochen erzählte mir ein Bike-Tester sichtbar erschüttert, dass sein schlauchloser Reifen gestern in voller Fahrt von der Felge gesprungen war und er beinahe einen Crash hingelegt hatte. Besorgt, dass es einer unserer Compass Reifen war, fragte ich ihn nach der Marke. Es war ein Reifen einer großen, renommierten Marke, als Pionier von Road Tubeless bekannt. ‘Ich hatte den Reifen auf 90 psi (6.2 Bar) aufgepumpt, ein ganzes Stück unter dem Max. Ich war mitten in der Fahrt als es plötzlich – bam – gemacht hat!’

Schlauchlose Reifen werden heutzutage immer populärer. Autoreifen besitzen seit einem halben Jahrhundert keine Schläuche mehr, Mountainbikes rollen mittlerweile flächendeckend auf schlauchlosen Reifen und viele von uns fahren ihre breitbereiften Allroad-Bikes bereits schon seit Jahren ‘tubeless‘ und ohne Probleme. Die Verwendung von Schläuchen in Reifen erscheint heutztage beinahe schon anachronistisch, wie ein Rückfall in die 1950er Jahre.

Mittlerweile ist der Trend zu ‚tubeless‘ auch bei Rennrädern und dementsprechend schmaleren Reifen angekommen. Aber ganz so reibungslos verläuft der Übergang da bislang noch nicht: es gibt immer häufiger Berichte über schlauchlose Rennradreifen, die es von den Felgen ‚bläst‘. Was ist los? Warum sind Reifen mit Schläuchen bei hohem Reifendruck sicher, und warum fliegen sie – schlauchlos gefahren – manchmal dann doch von der Felge?

Ein Fahrradschlauch hält nicht nur die Luft sondern verstärkt auch den Übergang vom Reifen zur Felge. Der Luftinnendruck presst den Schlauch von innen gegen den Reifen, so dass er sich nicht mehr selbstständig bewegen kann. Um einen Reifen von der Felge abspringen zu lassen, müsste sich bei diesem Setup theoretisch ein sehr kleiner Abschnitt des Schlauches massiv ausdehnen und den Druck an dieser Stelle enorm verringern können, damit der Reifen über das Felgenhorn rutschen kann. So flexibel Schläuche auch sind – sie kommen an einen Punkt, an dem sie sich nicht weiter dehnen lassen – weswegen es für einen Reifen mit Schlauch in der Praxis schwer wird, eine Stelle zu finden, an der er ohne Widerstand von der Felge rutschen kann.

Ohne Schlauch hat diese ‚Schnittstelle‘ keine Verstärkung. Wenn die Passung zwischen Reifen und Felge auch nur ein klein wenig Spiel hat, kann der Reifen ohne Vorwarnung über das Felgenhorn rutschen und abspringen. Selbst bei perfekter Passform kann es passieren, dass der Reifen von der Felge springt, denn das tire bead, die Reifenwulst mit ihrem innenliegenden Ring (im High-End Reifensegment meist aus Kevlar oder Aramidfäden gefertigt) kann sich trotzdem minimal ausdehnen. Je höher der Reifendruck, desto stärker sind die Kräfte, die dann auf den Reifenwulst einwirken. Hier liegt vermutlich auch die Ursache des Problems: schmale Rennradreifen werden normalerweise mit vergleichsweise hohem Druck gefahren.

Diese Überlegungen ließen mich zum Schluss kommen, dass Road Tubeless noch ein wenig der Reise in unerforschte Gewässer gleicht: In der Regel werden schlauchlose Reifen bei niedrigem Druck gefahren. Schlauchlose Reifen für Autos und Motorräder werden typischerweise mit weniger als 45 psi (3.1 bar) Druck gefahren (Die Ausnahme bilden Flugzeug-Reifen, die bis zu 200 psi Druck vertragen – aber die haben ein völlig anderes Design). Diese Reifen sind grundsätzlich deutlich steifer als Fahrradreifen – was Ihnen auch dabei hilft auf der jeweiligen Felge zu bleiben. Demgegenüber kann sich ein geschmeidiger Fahrradreifen, speziell ohne verstärkenden Schlauch, jedoch an nur einer kleinen Stelle bereits soweit dehnen und bewegen, dass er über den Felgenrand ‚klettern‘ kann. Die Erfahrung des Bike-Testers hatte mich auch deswegen so überrascht, weil der besagte Reifen nicht mal für seine geschmeidige Karkasse bekannt ist. Aber im Vergleich zu Auto- oder Motorradreifen sind selbst ‚steife‘ Fahrradreifen weich wie…

Es gab vereinzelte Berichte darüber, dass unsere 35mm Bon Jon Pass ebenfalls von Felgen abgesprungen seien. Natürlich haben wir uns gefragt, ob es vielleicht an einem Produktionsfehler lag und haben daraufhin einen Reifen der betroffenen Liefermarge auf eine sorgfältig vermessene, tubeless ready Reynolds Carbonfelge aufgezogen um zu sehen, was passieren würde. Wir haben den Reifen – ohne Dichtmittel – zuerst auf den maximal zulässigen Druck von 90 psi (6,2 bar) aufgeblasen – ohne Probleme. Anschließend haben wir den Druck auf 100 psi (6,9 bar) und 105 psi (7,2 bar) erhöht – ohne Probleme. Ein paar Pumpstöße mehr auf 108 psi und – bam – flog der Reifen von der Felge. Dank Gehörschutz und mangels Dichtmittel ohne Schäden an Körper, Kleidung und Umwelt.

Normalerweise würde wohl niemand einen 35mm-Reifen auf 108 psi (7,6 bar) aufpumpen. Auch mit Schläuchen ist der Bon Jon Pass auf maximal 90 psi (6,2 bar) Druck ausgelegt. Und solange alles perfekt ist, kannst man sie mit diesem Druck – auch schlauchlos – fahren. Leider ist jedoch in der realen Welt nicht alles perfekt! Der Durchmesser des Felgenhorns unterschiedlicher Felgen gleicher nominaler Größe kann erheblich variieren – unsere Ingenieure bei Panaracer haben festgestellt, dass die Durchmesser der Felgen bei Großserienrädern oft minimal kleiner sind als in den Spezifikationen angegeben – dadurch können die Reifen zwar leichter in den Montagestraßen montiert werden, gleichzeitig ist eine hundertprozentige Passung der Reifen auf den Felgen dadurch aber nicht mehr gewährleistet.

Das erklärt vielleicht auch, warum die wenigen Fälle, in denen Compass Reifen von Felgen abgesprungen sind, meistens unser Bon Jon Pass Modell betrafen: Sie sind die schmalsten,  schlauchlos-kompatiblen Reifen in unserem Portfolio und man neigt eventuell dazu, sie auf der Straße mit höherem Druck zu fahren. Auf der anderen Seite lieben Gravelbiker diesen tubeless-ready Reifen und melden keine Probleme trotz oft brutaler Fahrbedingungen. Aber sie fahren ihre Bon Jons eben auch mit 60 psi oder weniger.

Im vergangenen Jahr habe ich jedes Modell der tubeless-kompatiblen Reifen im Compass-Programm getestet. Ich habe sie schlauchlos auf einer ganzen Reihe von Fahrrädern montiert, sowohl auf den Testbikes für Bicycle Quarterly als auch auf meinen eigenen Rädern. Immer mit einem Reifendruck von 60 psi (4,1 bar) oder weniger und ohne jegliche Probleme. Selbst den Demoreifen aus dem obigen Test habe ich – dieses Mal mit Dichtmittel versehen – aufgezogen, auf 60 psi gebracht und auf einigen Touren ohne Probleme gefahren.

Basierend auf diesen Erkenntnissen und obigen Überlegungen empfehlen wir an dieser Stelle:

wenn Du Compass Reifen schlauchlos nutzen möchtest, dann fahr sie mit nicht mehr als 60 psi (4.1 bar) Druck! Wenn Du höheren Reifendruck fahren möchtest, dann benutze Schläuche! Da diese Problematik – schmalere Reifen + höherer Druck + variierende Passungen – nicht nur bei Compass Reifen zum Tragen kommen, empfehlen wir das grundsätzlich, auch für schlauchlose Road Tubeless Reifen anderer Hersteller, speziell für alle Arten von High-End Reifen, die verhältnismäßig geschmeidige Karkassen haben.

 

Natürlich willst Du einen schlauchlosen Reifen auch nicht mit zu wenig Druck fahren. Wenn er über die Maße gewalkt wird, bricht das Karkassengewebe irgendwann und die Seitenflanken werden undicht (wie im Bild oben). Ein schmaler Rennradreifen hat aber nur ein schmales Fenster zwischen zu hohem und zu niedrigem Reifendruck: wo ein Druck von 60 psi (4.1 bar) bei einem 35mm Reifen mehr als ausreichend für die Mehrzahl von Fahrer ist (Ich fahre meinen Bon Jons in der Regel mit 35 bis 40 psi), ist der gleiche Druck bei einem 26mm breiten tubeless ready Reifen selbst für leichte Fahrer nicht ausreichend hoch um Schäden an der Karkasse zu vermeiden. Pumpt man ihn auf über 60 psi auf, riskiert man jedoch, dass er einem ‚um die Ohren fliegt‘.

Mit breiteren Reifen hast du dieses Problem nicht. Ich fahre 54mm breite Rat Trap Pass auf meinem Firefly mit 40 psi (2,8 bar) auf der Straße. Mit so ‚hohem‘ Druck (für so breite Reifen) fährt es sich letztlich wie ein Rennrad. Offroad kann ich problemlos auf bis zu 22 psi (1,5 bar) runtergehen, ohne Gefahr zu laufen, die Reifen zu beschädigen. Seit ich beim Otaki 100km MTB-Race in Japan (siehe Bild unten) zwei Durchschläge in den Schläuchen hatte, fahre ich sie jetzt auch schlauchlos. Ja, ich musste feststellen, dass bei einem wirklich schnellen Rennen über sehr groben, scharfkantigen Untergrund, selbst 54mm breite Reifen nicht ausreichend Schutz vor Durchschlägen bieten!

Ich glaube, dass tubeless für Gravelriding der absolut richtige Weg ist. Wähle Reifen, die so breit wie möglich sind, fahr sie mit niedrigem Druck und Du wirst keine Probleme mehr haben. (Es sei denn, deine Felgen sind außerhalb der Toleranzen.).

Bezogen auf den Straßenradsport sind die Vorteile von schlauchlosen Reifen weniger klar. Durchschlagsgefahr ist eigentlich kein Thema auf der Straße – es sei denn, Du fährst nach wie vor extrem schmale Reifen. Alle mir bekannten Tests, einschließlich unserer eigenen, deuten auch darauf hin, dass der Rollwiderstand von schlauchlosen Reifen dabei nicht mal niedriger, sondern vermutlich sogar höher ist als bei Verwendung dünner, leichter Schläuche. Was irgendwie auch nicht verwunderlich ist: man ersetzt einen ultrageschmeidigen, gleichmäßig gezogenen Schlauch durch eine Flüssigkeit, die im Grunde genommen unkontrolliert im Reifen umherschwappt.

Wie steht es mit Platten? Ein netter Effekt des Dichtmittels in schlauchlosen Reifen ist natürlich, dass es kleine Punktionen und Löcher sozusagen ‚automatisch‘ versiegelt. So wie es scheint, muss man dafür aber nicht notwendigerweise schlauchlos werden: manch einer benutzt tubeless Dichtmittel auch in konventionellen Schläuchen. Genau wie im tubeless Reifen dichtet es auch im Schlauch kleine Löcher von selbst – vorausgesetzt, man füllt es erst in den Schlauch sobald man neue Reifen montiert. (Bei gebrauchten Reifen kann es sein, dass –  sobald ein neues Loch entsteht – die Luft durch ein altes Loch im Reifen entweicht und das Dichtmittel dann dorthin fließt, ohne das neue, eigentlich Luftverlust verursachende zu verschließen).

Basierend auf all dem oben genannten sind wir der Meinung, dass es zum jetzigen Zeitpunkt das Risiko nicht Wert ist, schmale und auf Hochdruck ausgelegte Rennradreifen schlauchlos zu fahren. Kann man die Probleme in den Griff kreiegen? Schwer zu sagen. Vielleicht ist Road Tubeless der Weg der Zukunft, oder aber der ‚Gürtelreifen‘ fürs Fahrrad: Autos haben sie seit Jahrzehnten, bei Fahrrädern haben sie sich niemals durchgesetzt.

Was muss passieren, um schlauchlose Reifen hochdrucksicherer zu machen? Der Anschluss, die Schnittstelle, die Verbindung zwischen Reifenwulst und Felge muss einheitlich standardisiert werden und die Fertigungstoleranzen müssen noch enger werden. Mit einer ‚perfekten‘ Felge kann man unsere 35mm Reifen bereits jetzt schon schlauchlos mit bis zu 90 psi (6.2 bar) fahren – aber wie bekommen wir alle Felgen perfekt?

Eine Lösung wäre, die Verbindungsfläche zwischen Felge und Reifenwulst zu vergrößern. Autos haben heute Felgenflanschmaße von 17,5mm Höhe – dreimal so viel wie bei den meisten Fahrradfelgen. Analog dazu müsste man dann die Reifen-Felgen Schnittstelle jedoch komplett umgestalten, was dazu führen würde, das die dazu passende Reifen nicht mehr mit heutigen Felgen kompatibel wären und umgekehrt.

Man könnte auch den Reifenwulst steifer und weniger dehnbar gestalten – aber nur verbunden mit Nachteilen: schlauchlose Reifen haben bereits jetzt steifere Wulstkerne als Standard-Faltreifen. Es gibt bislang keine besser geeigneteren Materialien für den Kern als die, die wir bereits verwenden. ‘Noch steifer‘ würde somit nur bedeuten Material, und damit Gewicht und Masse hinzuzufügen.

Wir haben die Hoffnung aber nicht aufgegeben: gemeinsam mit Panaracer, dem Hersteller unserer Compass Reifen, forschen wir am Thema tubeless weiter unter der Maßgabe unsere Reifenlinie kontinuierlich zu verbessern.

Abschließend anbei unsere Quintessenz bezüglich des Einsatzes von schlauchlosen Reifen:

  • Wir empfehlen grundsätzlich einen maximalen Druck von 60 psi (4.1 bar) bei Verwendung von schlauchlosen Reifen.
  • Auf Schotter und abseits asphaltierter Wege vermindert tubeless die Gefahr von Durchschlägen. Auf diesen Wegen wirst Du aber sowieso mit weniger als 60 psi (4.1 bar) unterwegs sein.
  • Wenn Du in erster Linie Straße fährst und höheren Reifendruck benötigst, dann verwende Schläuche in deinen Reifen. Diese Empfehlung gilt nicht nur für Compass Reifen, sondern auch für Reifen anderer Marken.
  • Auf glatter Straße rollen breite Compass Reifen genauso gut wie unsere schmalen Modelle. Deswegen sind unsere breiten Reifen, mit Reifendruck bis 60 psi gefahren, die ideale Basis um auch auf der Straße schlauchlos unterwegs sein zu können.
  • Achte bei der tubeless-Montage darauf, dass Du deinen Reifen erst mal mit 20% mehr Druck aufpumpst, als Du ihn später fahren wirst. Lass ihn für eine Weile ‚setzen‘ um sicherzugehen, dass er nicht doch noch von der Felge fliegt. Lass vor der ersten Fahrt den überschüssigen Druck ab, dann kannst Du sicher sein, dass Du dich nicht an der Belastungsgrenze deiner individuellen Reifen-Felgen Kombination bewegst.

Tubeless-Technologie hält viele Versprechen bereit, aber wie bei allem sollte man sie nur anwenden, wo es Sinn macht und gewisse Sichheit bietet. In einem der zukünftigen Posts, werden wir einige Tipps speziell zur schlauchlosen Montage unserer Compass Reifen geben.”

Photo credits: Nicola Joly (explodierter Reifen), Cyclocross Magazine (beschädigte Karkasse), Toru Kanazaki (Otaki 100 km Rennen), Jan Heine / Bicycle Quarterly (alle anderen).

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